Rennsteig in 4 Tagen
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Rennsteig – da hatte ich von gehört als Leser des „Trail“ Magazins… eine bis zu 73 km lange Tagesveranstaltung, eine ursprüngliche Strecke in einer ursprünglichen Landschaft, die eine lange Geschichte von über 100 Jahren hat. Seit langem auch schon mit sportlichem Charakter, egal ob gewandert oder auf Skiern. Da war ich vor Jahren schon mal drauf gewandert und war von der rauen Ursprünglichkeit beeindruckt. Einen (touristischen) Teil hatte ich letztes Jahr kennengelernt beim Rennsteig-Halbmarathon. Und mir gefiel der Gedanke, auf einem Höhenweg einen ganzen Gebirgszug zu erlaufen. Ich stellte mir alte bärtige Einheimische vor, die bei 0°C mit freiem Oberkörper vor ihrer Fachwerkhütte Holz hacken. Nachdem das Infomaterial studiert war, entschied ich mich, die 170 km auf 4 Tagesabschnitte von West nach Ost zu verteilen. Laufrucksack gekauft, Bahnfahrkarten und 3 Übernachtungen gebucht, Packliste erstellt – fertig.
Tag 1 (km 0-44)
Früh geht’s los über Erfurt und Eisenach nach Hörschel, einem kleinen Ort unterhalb einer riesigen Autobahnbrücke. Kurz nach 10 Uhr bin ich am Startpunkt, nehme einen Kiesel aus der Werra, um ihn 170 km weiter in einen anderen Fluss zu werfen, wie es die alte Rennsteig Tradition erbittet. Los geht’s bei strahlendem Sonnenschein über viele Forst- und Feldwege, über Äcker, durch Laubwälder, ab und zu über ein Stück Dorfstrasse. Absolutes Wohlfühltempo mit 6:00 min / km, da noch mehr als 800 Höhenmeter warten. Der Rucksack fühlt sich leicht und bequem an, es riecht nach frisch geschnittenem Gras, Baumharz und Frühling. Ich hoffe, die Versorgungssituation lässt es zu, weiter nur maximal 1.5 l Wasser mitzuführen, mehr erlauben die 2 Flaschen und das Gesamtgewicht des Rucksackes nicht. Die Motivation ist gut, noch fühlt sich alles sehr leicht an. Nach 19 km und 400 Höhenmetern die erste Rast und das Versorgungsdilemma: der Magen will kein Rostbrätl, Sülze oder Hackbraten. Also setze ich mich mit Kompressionsstrümpfen in ein Ausflugsrestaurant und nehme eine leicht bekömmliche Soljanka zu mir. Trinken, Flaschen auffüllen, weiter. Für Teil 2 des Tagesabschnittes plane ich mit Musik zu laufen, die Laubbäume machen jetzt Nadelwäldern Platz. Es kommen mehr Forstwege und die Pfade werden schmaler. Der höchste Punkt des Tages kommt in Sicht, der Große Inselsberg mit über 900 Meter über Null. Die letzten 2 Kilometer vorm Gipfel haben über 10% Steigung und werden schnell gewandert, da ich mit Laufen hier nicht mehr schneller bin. Wie bei Frodos Aufstieg zum Schicksalsberg ist die Sonne plötzlich verschwunden, Fleece-Pulli und Mütze werden angezogen und Wolken verdüstern die Szenerie. Der Wind frischt auf, das Licht verdunkelt sich und ich rechne mit einem Ork-Angriff aus den Felsen. Der Große Inselsberg ist nach 32 km erreicht, ein kleiner Hungerast wird mit Mohnkuchen bekämpft und es geht ab jetzt topographisch bergab.
Das erste grosse Zwischenziel ist erreicht und es geht fehlen nur noch 12 km bis zur Unterkunft. Es wird einsam unterwegs, ich komme an Schneefeldern vorbei, ab km 35 melden sich die Knie und ich bewege mich mit einem Lauf-Wander-Mix vorwärts, die Höhenmeter fordern ihren Tribut. Die Kilometer gehen trotzdem vorbei und bei km 44 komme ich in einem Berggasthof an. Selten habe ich mich so auf eine Dusche gefreut! Die Beinmuskulatur entspannt sich unterm heissen Wasser. Später gibt’s wieder das Versorgungsproblem: das am leichtesten bekömmliche Essen ist Thüringer Bratwurst mit Kartoffelsalat… ich quäle es mir rein. Nachts schmerzen die Knie bei jeder Drehung, ich träume durcheinander in der guten Bergluft.
Tag 2 (km 44-89)
Ich wache erfrischt und ausgeruht auf. Treppensteigen zum Frühstück geht schonmal. Kurzes Frühstück und los. Gleich ein knackiger Anstieg. Erstmal Speed-Wandern zum warm werden und verdauen. Die ersten Kilometer sind schotterige Forstautobahnen, die Knie melden sich ab und zu. Tageskonzept ist: steile Anstiege >5% gehen, Flachstücke und bergab laufen. Die ersten Kilometer gehen vorbei, keine anderen Leute unterwegs. Weiter Richtung Oberhof auf breiten langweiligen Wegen. Kühles Wetter, bedeckter Himmel, dann schon Oberhof bei km 63. Erste Trink- und Esspause, die jetzt folgenden Wege kenne ich vom Rennsteiglauf 2015, wieder langweilige Forstwege, teils sehr hart und breit. Die Streckenkenntnis macht es leichter, das Tempo zu planen. Weiter geht’s durch schönen Wald wieder hinauf auf auf über 900 m Höhe, hier ist der Scheitelpunkt der Strecke. Lange Hose, Mütze, Handschuhe, Schnee! Die Wege werden zu Pfaden und machen Spass zu laufen, eng, verschneit, wurzelig, auf und ab. Eine willkommene Abwechslung. Im Durchschnitt treffe ich 2 Personen pro 10 Kilometer, wirklich keiner unterwegs hier… dann km 71, Mittagspause. Aus Mangel an Alternativen gibt’s nun eine Waffel mit Kirschen und eine Fassbrause. Anruf im Hotel, Massage gibt’s bis 16:30 Uhr, also zügig weiter. Jetzt kilometerlang im Wald auf versteckten Pfaden entlang und 20m neben einer Strasse, die Strecke macht Spass: die Sonne kommt, Hose aus, die Kilometer fliegen vorbei. Verlaufen, Irrtum nach 500 m bemerkt, zurück, ein Extrakilometer. Zuletzt matschige Forststrasse mit viel Schlamm, der Rennsteigmittelpunkt wird passiert. Nun Wiese entlang einer Bundesstrasse und ein letzter Anstieg nach Neustadt, 1 km Asphalt im Ort und Ankunft Hotel. Neustadt ist richtig Zivilisation verglichen mit den letzten 88 km. Duschen, Sportmassage, Nickerchen, vegetarisches Essen mit Salat! Abends noch 2h lernen und Licht aus.
Tag 3 (km 89-129)
Leider werden ab 5.00 Uhr unter meinem Hotelfenster leere Getränkekisten verladen, also aufstehen und Frühstück. Trotzdem fühle ich mich erholt. Treppensteigen zum Frühstück geht wieder. Kurzes Frühstück und los. Erstmal bergab, die Knie meckern. Ich kann jetzt maximal 200 m Laufen, dann 200 m Gehen, wieder Laufen. Auch der Magen tut sich heute schwer mit dem Frühstück. Die Laufanteile werden aber immer länger. Bergab tut mehr weh als bergauf. Was solls, gehe ich halt bergab und laufe im Flachen und bergauf. Die Kilometer schleichen vorbei. Der Wanderanteil ist noch höher, als mit lieb ist. 1 Ibuprofen, ausnahmweise. Bei Kilometer 100 habe ich Kreislaufprobleme, Laufen fühlt sich nicht gut an, also Wandern. Trinken, Essen, Autosuggestion, ich kann mich überzeugen, dass alles gut ist. Lange Sachen an, 2 Grad. Treffe keine anderen Menschen mehr. Es geht durch Thüringer Urwald, keine Orte, keine Strassen, nichts. Kilometer 105, die Lage entspannt sich, wandere sicherheitshalber aber trotzdem erstmal weiter. Essen, Trinken, Konzentrieren. Höre nun wieder Strasse, es kommt Neuhaus, 4 km Strasse und Gehweg, Industriegebiet, nach 115 km Natur nervt dieser Teil. Eine weitere Soljanka zum Mittag mit Hund und Enkeltochter der Kneipenbesitzerin, habe für die Jungs zu Hause eine Postkarte gekauft. Nach dem Mittag kann ich wieder laufen. Raus aus dem asphaltierten Ort, schöne weiche Waldwege, kurzweilig und wurzelig. Nur noch 10 km. Dann leider wieder Forstautobahn, die letzten Kilometer bergab Richtung Spechtsbrunn. Die Knie haben jetzt keine Lust mehr. Ich würde den downhill jetzt gern gegen einen knackigen Anstieg tauschen. Ich komme mit starken Knieschmerzen in der Pension an. Km 129. Jetzt nur noch 40 km bis zum Ende. Duschen, Nickerchen, vegetarisches Essen mit Ziegenkäse, wieder Salat, die Pension ist naturheilkundlich angehaucht. Aroniasaft, bitter und sauer, aber heilend, mal schauen, obs wirkt. Abends noch Notfallplan für den nächsten Tag machen. Um den letzten Zug nach Hause zu bekommen, könnte ich zur Not alles wandern. 2h lernen und Licht aus.
Tag 4 (km 129-169)
Ob es der Aroniasaft war oder nicht – ich fühle mich so ausgeruht wie am ersten Tag. Auch die Knie wurden nachts gegen neue ausgetauscht. Frühstück und los um 7:30 Uhr. Die Sonne geht auf über Nebelwiesen, Rinder begrüssen mich.
Doch die Freude ist nur kurz. Ich treffe auf die Frankenwaldhochstrasse, auf der Suche nach einem alternativen Weg abseits der Strasse treffe ich auf 2 Rehe, dann verlaufe ich mich, richtigen Weg suchen. 50 Höhenmeter bergauf durch den Wald mit Hausfrauennavigation quer durchs Dickicht, ich finde den richtigen Weg wieder. Die laute Frankenwaldhochstrasse und ich sollten uns nun für 8 km Kilometer nicht mehr trennen. Der Rennsteig führt hier (leider) auf einem asphaltierten Fahrradweg entlang einer Schnellstrasse. Ich beschliesse, einige Geschwindigkeitskilometer einzulegen, damit es schneller vorbei ist. Km 140, die Strasse geht weiter, ich kotze. Jetzt wenigstens Fahrradweg mit Grünstreifen zur Strasse… Ich umarme den Wald, als er wieder kommt.
Jetzt kommen wieder einige schöne Waldkilometer mit vielen alten Grenzsteinen aus den Fürstenzeiten, hier war die Grenze der Ländereien der hohen Herren, die Grenzsteine sind zum Teil über 150 Jahre alt. Noch einen Feldhasen aufgeschreckt und ich komme in Brennersgrün an, ein Strassendorf, das aussieht wie vor 100 Jahren, jedes Haus mit schwarzem Schiefer, nur Autos, Asphalt und Strommasten verraten, dass wir uns im Jetzt befinden.
Weiter geht’s durch Wald und Wiesen bis km 154, eine Apfelschorle später bin ich wieder unterwegs, die Nadelwälder machen langsam wieder Laubbäumen Platz und es geht über Wiesen und Felder, letzte Ortsdurchquerung vorm Zielort. Die letzten 10 Kilometer fühlen sich an wie die ersten 10 und ich laufe im Zielort Blankenstein ein, steil geht’s bergab zum Fluss und der Stein wandert wieder ins Wasser.
Jetzt geht’s nach Hause.
Ich nehme mir vor, den Rennsteigmarathon nächstes Jahr zu laufen, die Stadtmarathons haben nach diesem Naturerlebnis ihren Reiz noch weiter verloren. Wenn es Training und Knochen erlauben, möchte ich mich jenseits der Marathondistanz in der Natur bewegen, über 50 km, vielleicht auch bei den 73 Rennsteigkilometern…
Schön war es, abseits des Asphalts zu laufen, mit ein bisschen mehr Langstreckentraining wären die Knie vielleicht auch weniger ärgerlich gewesen.
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